Erinnerungen an Ewald Becker-Carus
17.09.1902 Dingelstedt - 05.10.1995 Schloss Hamborn

Ende der 90er Jahre fuhren Engelbert Heyerhoff und ich zum Altenwerk Schloss Hamborn, um Herrn Becker-Carus zu besuchen. Zuvor hatten wir dort gefragt, ob ein Besuch möglich sei, und wurden willkommengeheißen.
Auf dem umfangreichen Gelände fanden wir uns schnell zurecht und trafen Herrn Becker-Carus in einem größeren Raum in Gesellschaft mehrerer älterer Personen an. Herrn Becker-Carus nannten wir unsere Namen und berichteten ihm, wir kämen aus seiner Schule, der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek. Dabei wurde schnell deutlich, dass sein Auffassungsvermögen wohl stärker getrübt war. Und Engelbert lenkte eine ältere Dame, mit der Herr Becker-Carus in ständigem, freundlichen Austausch von Handbewegungen begriffen war, mit Anrede und Gespräch ab. So konnte ich mich ihm deutlicher zuwenden, während er nicht abgelenkt wurde, und seine Aufmerksamkeit gewinnen.
Von Arne Klingborg, dem bekannten schwedischen Künstler und Architekten, begann ich zu berichten, der die Farbgestaltung des Neubaus in Farmsen übernommen habe. Und es ergab sich, dass ich ihn mehrmals vom Flughafen abzuholen oder dorthin zu bringen hatte.
Während dieser Fahrten habe er berichtet, dass Herr Becker-Carus nach dem Kriege während der Sommerferien in Oslo und an anderen Orten in Schweden mit Mal- und Plastizierkursen, sowie Vorträgen den Gedanken der Waldorfschule lebendig und anschaulich dargeboten habe. Und auf diese Weise viele Schweden zur Auseinandersetzung mit den Ideen Rudolf Steiners anregte. Dies führte zur Gründung von Waldorfschulen in Schweden.
Wohl etwa zehn Minuten waren darÜber inzwischen verstrichen. Herr Becker-Carus folgte den Worten aufmerksam, das war seinem konzentrierten Blick anzumerken. Und mit sehr leiser Stimme sagte er: "Es ist schön, dass Sie gekommen sind. Und ich erinnere mich an Arne Klingborg. Und es ist gut. Sie haben mir viel von mir erzählt." Während dessen deutete er mit streichenden Hand- und Armbewegungen Gestaltungen wie auf einer Fläche an, als setze er Farbkontraste gegeneinander. Als ein junger Betreuer hinzukam, glitt Herr Becker-Carus zurück in die Alltagsgewohnheiten.
Auf der Rückfahrt gerieten wir in einen zeitraubenden Stau, so dass wir erst sehr spät wieder in Hamburg ankamen.

Arne Klingborg berichtete auf einer der Flughafenfahrten von einem Besuch der Schule in Wandsbek 1947.


Durch Fotografie und Wochenschau in Schweden wähnte ich mich auf die Begegnung mit den zerbombten Deutschland vorbereitet. Aber bereits in Kiel auf dem Weg vom Schiff zum Bahnhof - rechts und links der Strasse Trümmerfelder, an vielen Stellen auf dem Gehweg nur ein schmaler Streifen notdürftig vom Schutt freigeräumt, hastende dürre Menschen in ärmlichster Kleidung und immer wieder Schwerverletzte, Einarmige, Männer mit amputiertem Bein an Krücken, auf winzigen Fahrgestellen mit Kinderwagenrädern solche, die beide Beine eingebüßt hatten, Blinde: alle in notdürftiger Uniform - als wäre ich in eine völlig andere, gänzlich fremde Welt geraten.
An den Bahnhöfen unterwegs warteten fast immer größere Menschenmengen, alle ärmlichst gekleidet. Und der Hunger war auch in ländlichen Gegenden jedem anzusehen. Beim Queren der Vororte Hamburgs reichten die Trümmerfelder bisweilen bis an die Gleise. Kaum ein Bahnsteig war noch intakt. Der Wagon wirkte ungepflegt und abgenutzt. Manche Fenster fehlten, waren gesprugen oder durch Holztafeln ersetzt. Die Ledergurte zum Schließen waren abgeschnitten. Auf der Weiterfahrt nahmen die Trümmer weiter zu. Nur vereinzelt ragten noch Häuserwände mit leeren Fensterhöhlen, oder nur leicht beschädigte Häuser daraus empor. Bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof herrschte auf fast jedem Bahnsteig dichtes Gedränge. Auf meine beiden Koffer hatte ich nun noch mehr zu achten. Denn kaum eine Person im Gedränge kam mir vertrauenswürdig vor. In den Koffern waren Buntstifte und Zeichenpapier für die Kinder der Waldorfchule in Wandsbek. Mit meiner Kleidung und den soliden Schuhen unterschied ich mich auffallend deutlich von meiner Umgebung. Ich fürchtete übergriffe. So suchte ich schnell den Weg nach Wandsbek zu finden. Man verwies mich auf Straßenbahn Linie 3, Richtung Tonndorf, in die ich einsteigen sollte.
Nahezu eine Dreiviertelstunde lang ging es nun durch weithin reichende Trümmerfelder. Auch hier nur sehr sporadisch ein stehengebliebenes Haus, oder Reste von Hauswänden. Wandsbek-Markt, war mir vom Schaffner gesagt worden, sollte ich aussteigen. Er kannte die vielen Kinder, die täglich die Line 3 morgens und nachmittags zum Besuch der Waldorfachule benutzten. "Rudolf Steiner Schule Hamburg" hieß die "Freie Goethe-Schule" jetzt nach dem Kriege.
Aber in diesem Trümmerfeld um den Wandsbeker Markt herum ein Schulgebäude - das konnte wohl nicht sein. Aber ein Polizist versicherte mir: "Gehen Sie hier den Pfad durch die Trümmer. Da gehen die Kinder auch immer, obwohl sie das nicht sollen. Ist aber kürzer!"
Der Pfad schlängelte sich an Hausfundamenten und Kellern, in die man hineinsah, weil die Decken einstürzt waren, entlang. An dessen Ende, einer schmalen Straße, der "Bleicherstraße" - die war mir als Schulanschrift bekannt - stand auf der anderen Straßenseite ein zweigeschossiges, Gebäude in grauem, rissigen Putz, notdürftig mit Sperrholz in den Fenstern. Das Dachgeschoss fehlte. Das kann doch keine Waldorfschule sein? Aber Bleicherstraße 59 war dies. Also trat ich ein.
Aber als ich die Innentür vom Windfang öffnete und in den geräumigen Flur mit dem Treppenaufgang links blickte und inmitten munter herumtollender Kinder Heinz Müller sah - Doch: auch ein von Bomben schwer beschädigtes Gebäude könne eine Waldorfschule beherbergen, dessen war ich mir dann damals sicher. Nun folgten Tage, an denen gemeinsam beraten wurde, wie der Schule, den Kindern von Schweden aus weitere Hilfe geboten werden könne.

Weitere Erinnerungen an Herrn Becker-Carus


Für uns Schüler war etwas ganz besonderes, dass Herr Becker-Carus mit dem Motorrad von Blankenese zur Schule fuhr. Bei gutem Wetter konnte es geschehen, dass Fräulein von Stockar, Eurythmielehrerin, auf dem Soziussitz der BMW mitfuhr. Es war eine ausgemusterte Mlitärmaschine, eine Zweihunderter BMW. Für uns Motorradnarren eine Besonderheit!
Da unsere Klasse sehr geschrumpft war - von damals sechsundfünfzig waren kaum zwanzig Schüler geblieben, die anderen hatten nach der zehnten Klasse die Berufsausbildung aufzunehmen - wurden wir mit der Parallelklasse in einigen Hauptunterrichtsfächern zusammengelegt. Das war Biologie bei Fräulein Dr. Barg, Kunstgeschichte bei Herrn Becker-Carus, Chemie bei Dr. Teberat. Zuspätkommen löste Herrn Becker-Carus jedesmal ein zeitraubendes Drama aus! Mit endlosen Auslassungen, beginnend mit seinem eigenen, täglichen, langen Weg zur Schule, bis zu in der Oberstufe vorrauszusetzenden Grundlgagen der Höflichkeit.
Beim Malen und Plastizieren war es viel angenehmer mit ihm. Das lag ja auch im allgemeinen später am Tag. Das frühe Erscheinen in der Schule war für ihn wohl das Unangenehmste, was es gab.
War wohl vor Pfingsten 1954. 12a und wir, 12b, fuhren mit Fräulein Schröder, Herrn van Grootheest, Herrn Becker-Carus, Herrn Dr. Brosch nach Paris. Hinfahrt Straßburger Münster, Jugenherberge Übernachtung (wo?), 2 Wochen Paris, Jugendherberge "Nähe" Metro Porte d'Auteuil, Frühstück Baguette und Kakao, weite Wanderungen durch Paris.
Viele Jahre später erwähnte Inge Schröder, sie sei als junge Kollegin doch ziemlich entsetzt gewesen, als Herr Becker-Carus sie kurz vor Ankunft bei Tageszielen beisete nahm, um zu fragen, was es mit dem Ziel auf sich habe. Dieses habe er dann gleich anschießend an die Klassen "verkauft".
Als ich dann anfing vertretungsweise an der Schule zu unterrichten, sah Herr Becker-Carus häufiger mal vom Hof aus durchs Fenster dem Werkunterricht zu. Er schien Freude daran haben, wenn er Schüler der neunten und zehnten Klassen Bretter aushobeln, oder genaue Holzverbindungen ausführen sah.
Auch im Saal des Neubaues sah ich ihn ab und an. Da schien es mir, dass er Begegnungen und Begrüßungen auszuweichen suchte. Es begann für ihn wohl die Erinnerung der Namen zu verblassen, vermutete ich. Und das war für diese höfliche Persönlichkeit unangenehm und peinlich.

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